Ein Brief, nicht nur zu Weihnachten.
Von Arthur Geiger
Herzlichen Glückwunsch: Sie sind auserwählt, mit dieser weltweit einzigartigen Zeitmaschine Ihre Reise anzutreten. Steigen Sie ein, gurten Sie sich an und wählen auf einer goldenen Jahrestafel Ihr Reiseziel. Und während Sie sich mit geschlossenen Augen am Sitz festklammern, katapultiert Sie das Gefährt mit lautem Dröhnen und Poltern durch die Geschichte der Menschheit.
Stellen Sie sich das mal vor, auf einen Schlag alles weg: Rezession, Arbeitslosigkeit, Privatinsolvenz, Bundesanstalt für Arbeit, Einkommenssteuer, Kanzler Schröder und natürlich auch Dieter Bohlen. Schwupp! Einfach weg! Verlockend, nicht wahr?
Nun denn, wohin darf die Reise gehen? Wie wäre es mit den goldenen Zwanzigern, genauer das Jahr 1924? Die deutsche Kultur und Wissenschaft in einer prächtigen Blütezeit, die weltweite Konjunktur gekennzeichnet durch stetigen wirtschaftlichen Aufschwung. Frauen kokettieren frivol mit Hutschachtel und Herrenstrümpfen, das gesellschaftliche Leben pulsiert mit Leichtigkeit und Eleganz. Bescheidener Wohlstand ist Normalität in deutschen Landen.
Doch halt: Bereits fünf Jahre später ein Bild der Trostlosigkeit. Die Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929/30 beendet den schönen Traum vom stetigen Aufschwung. Stattdessen: Verelendung, Massenarbeitslosigkeit, Geldentwertung und soziale Not treiben der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ die entmutigten Menschen in die Arme. Der wenig ruhmvolle Rest ist bekannt.
Eine Reise mit der Zeitmaschine: Fluch oder Segen? Würden wir Deutschen des 21. Jahrhunderts wirklich glücklicher, sicherer und zufriedener in längst vergangenen oder zukünftigen Zeiten leben? Wären wir bereit, mit den Menschen dieser Epochen ihr Leben zu teilen – mit allen Entbehrungen und Gefahren, aber auch Freuden und uns fremden Gewohnheiten? Ließe sich durch diese Zeitreise das „Ebbe-und-Flut-Prinzip“ unseres Lebens umgehen?
Vermutlich nicht wenige Menschen werden dem scheidenden Jahr 2003 keine Träne nachweinen. Deutschland, einst wirtschaftlicher Vorzeigekandidat und Technologieführer mit einer diesem Anspruch in nichts nachstehenden Kunst und Kultur, brütet derzeit im kollektiven Jammertal. Doch nicht nur der wirtschaftliche Abschwung erschüttert unser Selbstverständnis von Wohlstand. Es ist vor allem auch die sinkende Sonne der Kultur, die selbst bislang unbedeutende Zwerge Schatten werfen lässt. Und an „Superstar-Zwergen“ mangelt es in diesen Zeiten wahrlich nicht.
Sorgenfalten auf unserer Stirn formt auch die Art und Weise des rauen Miteinanders, das zunehmend Vertrauen, Respekt und zuvorkommenden Umgang zum verzichtbaren Luxusartikel erklärt.
Jene Zeitgenossen, die gerade auch in stürmischen Zeiten anderen Menschen durch ihren Respekt und ihr Vertrauen Kraft und Zuversicht schenken, sind die „wahren Helden“ unserer Tage. Doch wir alle tragen die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung schwieriger Lebensabschnitte in uns. Ganz so wie Herr Keuner, dessen kurze Geschichte ein großes Stück Wahrheit enthält:
Herr Keuner und die Flut
Herr Keuner ging durch ein Tal, als er plötzlich bemerkte, daß seine Füße in Wasser gingen. Da erkannte er, daß sein Tal in Wirklichkeit ein Meeresarm war und daß die Zeit der Flut herannahte. Er blieb sofort stehen, um sich nach einem Kahn umzusehen, und solange er auf einen Kahn hoffte, blieb er stehen. Als aber kein Kahn in Sicht kam, gab er diese Hoffnung auf und hoffte, daß das Wasser nicht mehr steigen möchte. Erst als ihm das Wasser bis ans Kinn ging, gab er auch diese Hoffnung auf und schwamm. Er hatte erkannt, daß er selber ein Kahn war. (Bertold Brecht)
Ich wünsche Ihnen nicht nur die Erkenntnis des Herrn Keuner, sondern auch die Fähigkeit und Kraft, im kommenden Jahr unbeirrt und mit Freude auf Ihrem Weg voranzuschreiten.
Ihnen und Ihren Nächsten wünschen wir friedvolle Feiertage, die Ihnen Zeit zum Entspannen und „Abschalten” gewähren.
Kommen Sie gut ins neue Jahr, und bleiben Sie uns gewogen.
Herzlichst,
Ihre Redaktion
kinzigtal.de
PS: Vielleicht denken Sie ja im neuen Jahr hin und wieder an Herrn Keuner, der mit seiner Erkenntnis sein Leben veränderte.
Zur Person:
Arthur Geiger (35) ist als Inhaber eines IT-Fachbetriebes in verschiedenen Ausschüssen tätig, und schreibt u.a. regelmäßig für EDV-Fachzeitschriften.